Was bisher geschah: Seit Teil 1 wissen Sie, was Kajaks und Texte gemeinsam haben und was Sie für die Schreib-Vorbereitung von Wildwasserfahrern lernen können. 

Sie können also starten. Doch Vorsicht: Da blockiert noch was.

Gehen Sie Ihre Vorbereitung nochmal durch: Sie haben darüber nachgedacht, wo Sie mit dem Leser einsteigen und wo Sie ihn am Ende haben wollen. Sie haben die richtige Form gewählt: einen Essay, einen Blogtext, einen Artikel oder was auch immer. Sie haben sich die richtige Ausrüstung an Stilmitteln und Textelementen zurecht gelegt. Sie sitzen an dem Ort, an dem Sie schreiben wollen. Sie haben Ihren Stift gezückt, die Tastatur zurecht gerückt. Sprich: Sie sind bereit loszulegen.

So wie ein Kajakfahrer, der am Einstieg zum Fluss bereit steht: Er hat sich seinen Neopren- oder Trockenanzug angezogen, seine Spritzdecke und die Rettungsweste angelegt und seinen Helm auf den Kopf gesetzt. Er hat sein Boot bis zum Ufer gebracht und setzt sich hinein. Es ist eng in so einem Wildwasser-Kajak, denn über den Kontakt von Hüfte und Beinen zum Boot wird gesteuert. Nun zieht der Kajaker die Spritzdecke über die Bootsluke und greift nach dem bereitgelegten Paddel. 

Autor und Paddler sind also bereit. Doch dann ist sie mit einem Schlag da: die Nervosität.

Die Ungebetene

Verdammt, wo kommt die jetzt auf einmal her? Das ist doch nicht das erste Mal, dass Sie sich zum Schreiben bzw. zum Paddeln bereit machen. Doch diese leere Datei, der Fluss schaut Sie an wie ein gähnender Abgrund.

Diese Empfindung kennen Wildwasserfahrer nur zu gut. Gerade eben haben das funkelnden Wasser und die Berggipfel dem ein oder anderen noch eine Bemerkung à la „Mei, is des schee do.“ entlockt. Doch jetzt werden die Blicke starr, das Lachen klingt gepresst.

Männer nennen diese Empfindung gerne „Adrenalin“, Frauen bleiben eher bei der Wahrheit und sagen „Angst“ dazu. Jedenfalls macht sich ein flaues Gefühl in der Magengegend breit. Da soll ich runter? Muss das sein?

Die Nervosität legt sich wie eine ungebetene Last auf Ihr Gemüt. Bleischwer, so dass das Abstoßen vom Ufer, das Formulieren des ersten Satzes schwer fällt.

Die Getarnte

Diese Last tarnt sich auch gern mal. Dann zeigt sie sich nur indirekt, zum Beispiel in Form von Konzentrationsstörungen. Das Summen der Fliege, die Falte an Ihrer Latexmanschette am Arm: Das alles lenkt Sie furchtbar ab. Wie sollen Sie sich da aufs Paddeln oder aufs Schreiben konzentrieren? Am besten Sie stehen nochmal auf, um die Fliege zu jagen oder Ihre Manschette zu richten. So können Sie unmöglich anfangen.

Doch kaum haben Sie sich wieder hingesetzt, klappert der Nachbar mit den Mülltonnen draußen im Hof oder eine Schnalle an Ihren Sitz im Kajak ist irgendwie locker. Hat die Welt sich gegen Sie verschworen und schickt immer neue Störfaktoren?

Spätestens dann sollten Sie die Last erkannt haben: Aha, die Nervosität lässt sich was einfallen, um Sie vom Starten abzuhalten.

Werden Sie sie los!

Es gibt tausende von Tipps, wie Sie diese Startnervosität überwinden und diese Last loswerden – beim Kajakfahren und auch beim Schreiben. Folgende drei haben sich für mich am Bach gut bewährt und ich wende sie auch am Schreibtisch an:

  1. Ich hole tief Luft, fahre meine übernervösen Antennen ein und stoße mich von Ufer ab. Den Blick richte ich fest auf den ersten Orientierungspunkt, den ich mir für den Text oder im Fluss vorab gesetzt habe. Meine Gedanken sind auf diesen Punkt fokussiert: Da will ich hin. Nichts anderes zählt.
  2. Ich fahre im Kopf die Strecke bzw. meine geplante Leserführung ab: Ich sehe mich, wie ich die heiklen Stellen souverän passiere, und freudestrahlend am Ausstieg ankomme. Ich spüre das zufriedene „Geschafft“-Gefühl – und lege los.
  3. Meine Lieblingsstrategie seit einem Mentaltraining für Kajakerinnen diesen Sommer: Ich aktiviere meinen Entschlossenheitspunkt. Vielleicht kennen Sie diese Ankertechnik: Sie laden eine Stelle an Ihrem Körper mit einer Erinnerung auf an einen Moment, in der Sie Ihre Stärke durch und durch spürten. Diese Stelle lassen Sie jetzt leuchten, Sie fühlen Ihre Energie. Und tauchen das Paddel ins Wasser, legen die Finger auf die Tastatur und schreiben den ersten Satz …

Wir sehen uns …

Einen typischen Spruch, um sich gegenseitig gutes Gelingen zu wünschen, wie zum Beispiel „Hals- und Beinbruch“ gibt es beim Paddeln nicht. Am ehesten nickt man sich beim Abstoßen vom Ufer zu und sagt aufmunternd: „Wir sehen uns am Ausstieg!“ Denn das bedeutet, dass beide unten heil ankommen. 

Das wünsche ich Ihnen auch: Dass Sie stolz und zufrieden am Ende Ihres Textes ankommen.

In diesem Sinne: Wir sehen uns am Ausstieg!

Petra Münzel-Kaiser

Im nächsten Teil lernen Sie übrigens unter anderem, warum eine Linie wichtig ist und warum selbst die Chickenline besser ist als keine.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte geben Sie eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed